Eine Krawattenfliege binden

   

Die Verwandtschaft, die zwischen den Einzelwerken eines Künstlers bzw. einer Künstlerin besteht, läßt sich als Handschrift lesen oder aber als Feld. Erstere Lesart, die den Urheber des Werkes in den Vordergrund rückt, wird man bevorzugt bei expressionistischen KünstlerInnen anwenden, letztere Lesart, deren Hauptaugenmerk der Werkebene gilt, bei programmatisch arbeitenden. Als Ausstellungsform ist die Formierung eines Feldes aus Werken oder Werkteilen einzelner KünstlerInnen, in der Kunst gemeinhin als environment bezeichnet, eine Erfindung der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts.
Die künstlerische Strategie des environment versucht eine gültige Antwort auf die Krise von Subjekt und Welt. Sie ist Ausdruck einer prekären Beziehung des Ichs zu den Dingen, die innerhalb des gegebenen zweckrationalen Ordnungszusammenhangs zur Ware oder zum Fetisch tendieren. Diese Problematik verdeutlicht der Zerfall eines utopischen Kunstbegriffs, wie ihn zuletzt Clemens Greenberg für den abstrakten Expressionismus formulierte, zugunsten des pragmatischen Kunstbegriffs wie den der Pop-Art. Das Werk eines Robert Rauschenberg ist genau an dieser Schnittstelle verortet. Rauschenberg inszeniert Objekte im Raum zu einem Feld mit unscharfem Bedeutungshorizont. Die einzelnen Bilder, Fotografien und Objekte sind Zeichen, vergleichbar den Figuren auf einem Schachbrett; ihre Bedeutung ist aber, anders als im Spiel, nicht Resultat kommunikativer Vereinbarung, sondern Ergebnis einer subjektiven Setzung. Daher ist das künstlerische Feld notwendigerweise uneindeutig.

Kunst als Feld - diese Praxis hat in den sechziger und siebziger Jahren verschiedene Ausformungen gefunden. Die Werksätze von Franz Erhard Walther erstellen ein programmatisches Feld, die Fallenbilder von Daniel Spoerri ein poetisches. Das Feld, das die Fotografien von Wassertürmen des Künstlerpaares Hilde und Bernd Becher eröffnen, ist formal repetitiver Natur. Wird das Kunstwerk in den achtziger Jahren vorwiegend in seiner Realität als Ware reflektiert und deshalb bevorzugt als Unikat ausgestellt, erlebt die Arbeitsform des Feldes in den neunziger Jahren eine Renaissance. Reale Gegenstände werden akkumuliert (Jessica Stockholder), derart angehäufte Gegenstände werden fotografiert (Christopher Müller) oder erst in Papier nachgebaut und dann fotografiert (Thomas Demand). Die grundsätzliche Problematik, wie sich ein objektiver Zusammenhang im künstlerischen Werk formulieren läßt, ist bei diesen Beispielen aus den neunziger Jahren allerdings nur noch bedingt zu erkennen. Dem Feld als Zeugnis des Verlusts eines verbindlichen Kunstbegriffes, wie es bei Rauschenberg motiviert war, begegnet man dagegen bei dem israelischen Künstler Eran Schaerf.

Auch bei Eva Lammers steht das Feld in sehr persönlicher und eigenwilliger Weise im Zentrum ihres künstlerischen Tuns. Felder finden sich bei ihr sowohl in eigener Setzung, als auch in Form einer Untersuchung vorgefundener Feldformen. Dort wo das Feld seine eigene Setzung ist, resultiert es aus den Momenten des Fortwucherns, der Inszeniertheit im Raum oder des zeichnerischen Verwebens verschiedener Malstile und Anschauungsebenen. Unter den historischen Feldformen bevorzugt Lammers Teppich und Barockgarten. Denn der Bildteppich, man denke an die Wandteppiche des Mittelalters oder die neuzeitlichen afghanischen Kriegsteppiche, repräsentiert wie der künstlich angelegte Garten einen brüchig gewordenen Kanon. Es sind subjektive Setzungen einer kollektiven Erfahrung, die die Möglichkeit eines neuen Kanons erkunden.

Was ist Grund? Was ist Figur? Oder: Was ist Text und was Kontext? Mit dieser ersten und fundamentalen Frage für das Erstellen oder Lesen eines Feldes beschäftigt sich Lammers in der Serie Schwarz/Weiß. Bilder und Zeichnungen von 1990 bis 1995. Die Zeichnungen und Bilder bestehen aus hart gegeneinander gesetzten kristallinen schwarzen und weißen Flächen, deren Status unablässig zwischen Grund und Figur wechselt. Die einzelnen Blätter der Serie Schwarz/Weiß funktionieren dabei wie Dominosteine, die unendlich aneinandergehängt werden können. Sie erstellen ein fortwucherndes Revier, in dem sich wiederholte und variierte Grundformen in alle Richtungen über den Raum ausbreiten. Die Blätter bedecken den ganzen Raum, überwuchern Wände und Boden, ja auch im Raum befindliche Gegenstände wie Ofen und Leiter und reihen diese so in das Bildfeld ein. Ausschnitte aus diesem Feld werden quasi als Auskoppelung in zu eigenständigen in Öl gemalten Bildern.

 

 

Die Installation Grete von 1998 zeigt Bilder in einem fiktiven Bühnenraum (Eva Lammers war vor ihrem Studium an der Kunstakademie als Bühnenbildnerin am Modernen Theater in München tätig). Sechs Ölgemälde in den Farben der französischen Trikolore (blau, weiß, rot,) werden in eine vorgefundene Architektur, einen Raum mit Holzempore und zugehöriger Zugangstreppe, so gehängt, daß die Bilder als Teil einer Gesamtinszenierung erscheinen. Die Revolutionsfarben der Bilder in Verbindung mit der Tribünenarchitektur verwandeln den gesamten Raum in ein Bühnenbild ohne Bezugstext. Die Bilder zeigen in plakativer Malweise ohne Malduktus oder Pinselhandschrift sechs verschiedene Weisen des Haareflechtens bzw. -knotens. Der Titel Grete verweist dabei sowohl auf die typische Trägerin solcher Haarknoten, als auch auf die Gretchenfrage, nämlich was in der Kunst miteinander verknotet wird. Im Feld ist jede Figur als Verknotung verschiedener Fäden zu lesen. Die Fäden, als Spur der referenten Außenwelt, verknoten sich im Bild auf neue Weise. Die Knotenpunkte verweben sich zum Kosmos des Bildes. Daß sich Eva Lammers deshalb dem Teppich als Untersuchungsobjekt widmete war deshalb naheliegend. Dabei zeigt Lammers den Teppich nicht einfach analog zu seiner Flächigkeit als flächiges Bild. Der Teppich rollt sich in der Zeichnung vielmehr auf und gerät so in einen Zwischenzustand von Zwei- und Dreidimensionalität. Auf die Weise schaut Lammers gleichsam mit ihren Zeichnungen unter den Teppich. Betrachtet man den Teppich nun, wie ich es vorgeschlagen habe, als gegebenes Feld übersetzter Kollektiverfahrung ins Bild, so ist seine Verräumlichung eine zeichnerische Reflexion in dem das gegebene Bild in ein Verhältnis zum Gezeichneten gebracht wird. Das Erstellen von Feldern jeweils nur eine Möglichkeit der Weltneuverknüpfung. Hierbei ist das Hineinrollen des Feldes in den Raum so etwas wie der Hinweis auf die Bedingtheit jeder bildnerischen Realisierung und evoziert die Frage analog zum Teppich. Was ist unter dem Feld, entsprechend der Frage die man angesichts der Bühne eines Theaters hat, was ist hinter dem Vorhang? Diese Verkippung von gegebenen Bildern im Bild nimmt auch Lammers in ihrer Serie von Zeichnungen über den Münchner Hofgarten aus dem Jahre 2000 vor. Diese Zeichnungen sind analytisch-poetische Aneignungen eines vorgegebenes Feldes, einer kulturhistorischen Ordnung, die gleichzeitig wieder zur Disposition gestellt wird. Hier mischt sich subjektive Sichtweise mit scheinbar objektivem Verfahren, mischt sich Naivität mit Virtuosität und kulturhistorisches Detailwissen mit radikaler Reduktion. Lammers verwendet in ihren Zeichnungen des Hofgartens verschiedene Darstellungsweisen und Zeichenduktus, die mitunter nebeneinander auf einem Blatt stehen. Dieses Auflisten verschiedener zeichnerischen Aneignungsverfahren findet ihren Zusammenhalt in der ihnen gemeinsamen naiven Wiedergabe. Dadurch entstehen poetische Setzungen, die in der Schwebe zwischen Linie, Fläche und Raum bleiben.

Es geht Eva Lammers darum, subjektive Erfahrung in intersubjektive Erfahrbarkeit umzusetzen, ohne das Geheimnis der einzelnen Dinge aufzulösen. Sie destilliert und isoliert für sich Formen und Figuren aus der Wirklichkeit, setzt sie neben- und gegeneinander, statt sie formal, indem sie sie z. B. auf eine Abbildungsebene bringt, miteinander zu verkitten. Auf diese Weise erklären sich die einzelnen Teile gegenseitig, ohne sich preiszugeben. Dieses Spiel der Verdichtung und Brechung steigert Lammers, indem sie Feldzeichnungen illusionistisch in den Raum hineinwölbt. So wie sich bei einer Zeichnung, die das Binden von Krawattenknoten veranschaulichen soll, die Linien bei gleichzeitiger Offenlegung des Verlaufs explosionsartig zu einem räumlichen Gebilde verdichten, verknotet Lammers ihre Erfahrungen in höchst artistischer Weise miteinander, während ihr Vorgehen zugleich transparent bleibt. Nicht umsonst hat sie die Krawattenfliege als lockeren Knoten immer wieder gezeichnet. Wie schwierig ein solch komplexer Vorgang zeichnerisch auf elegante Weise zu bewältigen ist, läßt sich am besten durch den Aufwand illustrieren, der für seine sprachliche Beschreibung geleistet werden muß.
„Lege die Fliege um deinen Nacken, die linke Seite ca. 4 länger als die rechte. Kreuze das längere
über das kürzere Ende und bringe es durch die Schlaufe nach oben. Bilde die vordere Schlaufe, indem du das kürzere (hängende) Ende doppelt und über den Kragenpunkten plaziert. Halte diese vordere Schlaufe mit Daumen und Zeigefinger deiner linken Hand. Lasse das lange Ende ber die Vorderseite herunter. Plaziere deinen rechten Zeigefinger, nach oben zeigend, auf dem unteren Teil des hängenden Endes. Reiche es hinter der vorderen Schlaufe nach oben und ... Stecke die entstehende Schlaufe durch den Knoten hinter der vorderen Schlaufe. Straffe und gleiche die Enden aus.“

Die Kluft zwischen der sperrig-uneleganten, prosaischen Beschreibung des Bindens einer Krawattenfliege und der Eleganz der Fliege selbst vermittelt einen Eindruck von dem Abstand meines Textes zu Poesie und Artistik der Werke Eva Lammers.

Michael Hofstetter 2003

   

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